Auf der GORCH FOCK habe ich 1980 gelernt, dass die Nachtschicht von 0 bis 4 Uhr die "Hundewache" genannt wird. Allein schon der Gedanke, um 23:30 Uhr geweckt zu werden, um kurze Zeit später vier Stunden an Deck mit Ausguck, Ruder, Brassen, und Navigation zu verbringen, mag manchem Zeitgenossen unvorstellbar erscheinen. Ich geb' ja zu, die erste Nachtschicht tut tatsächlich ein wenig weh.
Ich lag so richtig im Tiefschlaf in meiner Koje, als Andreas von der Wache 3 mich geweckt hat. "Es ist halb zwölf. Wir haben 21 Grad Celsius an Oberdeck und trockenes Wetter." Mehr muss ich nicht wissen, um mich angemessen zu kleiden. Also schäle ich mich schlaftrunken aus der Koje, ziehe mich und gehe in die Navi (Kurzform für Navigationsraum), um einen ersten Überblick zu bekommen. Wie ist unsere Position? Welcher Kurs liegt an und wie viel Fahrt macht die Roald? Liegen während meiner Wache navigatorische oder nautische Besonderheiten vor uns? Was sagt die aktuelle Wettervorhersage? Woher kommt der Wind? Langsam erscheinen erscheinen weitere verschlafene Gestalten im deckshaus und streben auf die Brücke zur Wachübergabe. Punkt Mitternacht übernehmen wir die Verantwortung für eine ruhige Nacht unter Vollzeug auf Lake Superior. Mit einem "Gute Ruh'" entlassen wir die abgelöste Seewache unter Deck in die Kojen. Nun gehört die Nacht uns.
An den Deck wird mir schnell klar, wie sehr ich diese Stunden genieße. Leise Stimmen wehen über das Deck. Wir versammeln uns auf der Brücke für eine Vorstellungsrunde. Dann bitte ich um ein erstes Feedback, mit dem wir unsere Gefühle, unsere Stimmung und gedanken austauschen können, um ein wenig Selbstklärung und ein besseres Verständnis füreinander zu erreichen. "Wie ist dein persönliches Wetter? Wie fühlst du dich? Was läuft gut, was weniger aus deiner Sicht? Was erwartest du, hoffst du für die vor uns liegende Zeit?" Das Gespräch tut uns allen gut.
Nachtwache. Ruhe über dem Wasser. Vor uns steigt der abnehmende Mond am Horizont aus dem Wasser. Im Norden zieht ein Satellit vorbei. Sternenhimmel. Der sommerlaue Wind trägt die gleichmäßigen Motorengeräusche eines in zwei Seemeilen Entfernung von uns fahrenden "Lakers" (Frachter mit der für die Lakes typischen Bauform) zu uns herüber. Das Wasser gluckert, gurgelt und rauscht am Rumpf der ROALD AMUNDSEN entlang. Die Radarantenne quietscht bei jeder Umdrehung. Gedämpftes, rotes Licht erleuchtet die Zahlen auf der Kompassrose. "Null sieben null liegt an", meldet Neil. Ryan und Rainer stehen am Bug, halten Ausschau nach Lichtern in der Nacht und unterhalten sich leise. Libby und Samara kneten in der Kombüse Brot- und Brötchenteig für den nächsten Tag. Daniel, unser Toppsgast, sitzt auf der Brücke und geht seinen Gedanken nach. Ralph darf als einziger aus der Wache noch schlafen, denn er ist für die Morgenschicht als Backschafter eingeteilt. Und ich? Mir geht's einfach nur gut.
Nachtwache. Ich mag diese Stunden zwischen gestern und dem anbrechenden Morgen. Ich liebe die Ruhe, spüre bewußter den Wind, genieße das rauschende Wasser und genieße den Moment. es ist gut, endlich wieder an Deck zu stehen.
Bild 1: Die Publikumsfrage: Was ist das? Eine spezielle, nur im Lake Superior vorkommende, leuchtende Quallenart? Oder handelt es sich um eine Raumpatroullie vom Planeten Vulkan, die regelmäßig nachschaut, ob die Menschheit schon im Warp-Zeitalter angekommen ist? Oder handelt es sich um eine nordamerikanische, blau leuchtende, fünfzellige Glühwürmchenart? Leider alles falsch. Es ist das Nacht- und zugleich Notlicht im Quergang des Deckshauses der ROALD AMUNDSEN.
Bild 2: Kleines Stilleben à la Michi. Wir segeln Kurs Ost-Nord-Ost Richtung Soo. Im Süden liegen die "Apostle Islands". Auf der Schiffahrtsroute begegnen uns regelmäßig große Frachtschiffe. Für mich ist der Abschied von Duluth der Wendepunkt meiner Reise. In gut 10 Tagen bin ich wieder in Eckernförde. Es fühlt sich ein wenig wehmütig nach Abschied an. Ein gutes Zeichen. Ich freue mich auf unseren nächsten Hafen Green Bay und die Passage zum Lake Michigan.
Bild 3: Momentaufnahme des Radarbilds auf der Brücke. Der große weiße Fleck in der Mitte sind wir selbst. Jeder Ring markiert zwei Seemeilen Distanz, es ist also der 12-Meilen-Bereich geschaltet (unschwer oben rechts abzulesen). Das Echo direkt voraus bei sechs Meilen ist ein "Geisterkontakt", also ein Störecho, das sich aus der Konfiguartion unserer radaranlage in Verbindung mit den Masten ergibt. Backbord voraus, ebenfalls sechs Meilen entfernt, peilt ein mitlaufender Kontakt. Es ist ein mit 12 Knoten laufender "Laker", der uns erst kürzlich überholt hat und auf der Schifffahrtsroute Richtung Soo strebt. An unserer Steuerbordseite habe ich einen Komtakt mit einem Kreuz markiert, um Peilung und Abstand zu messen (Werte mittig weiter unten im Feld "Cursor"). Peilung 134,7 Grad; Abstand 4,782 Seemeilen. Ich bin nicht sicher, was es für ein Fahrzeug ist und behalte es im Auge. Der "Laker" ist mit einem künstlich generierten Dreieck versehen. Das ist das AIS-Signal (automatisches Identifikationssystem). Die Zahl am oberen Rand (079,2) ist unser rechtweisender Kurs, also der Kurs bezogen auf den geographischen Nordpol, der sich um einige Grad vom Magnetkurs, also dem Kurs bezogen auf den magnetischen Nordpol unterscheidet. Letzterer 'wandert' nämlich unmotiviert kreuz und quer durch die Arktis und ist daher wenig verlässlich. Dann gibt's noch den "Kurs über Grund". Das ist der Kurs, auf dem wir uns tatsächlich durch die Geographie bewegen (Kartenkurs). Merke also:
Magnetkurs - Kurs am Magnetkompass - Richtung, in die der Bug bezogen auf den magnetischen Nordpol zeigt.
Rechtweisender Kurs - Richtung, in die der Bug bezogen auf den geographischen Nordpol zeigt. Läßt bezogen auf die tatsächliche Bewegung des Schiffes Abdrift durch Wind und Strom unberücksichtigt.
Kurs über Grund - Richtung, in die sich ein Schiff tatsächlich durch die Geographie bewegt. Mögliche Abdrift spielt keine Rolle bzw ist berücksichtigt.
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