Dienstag, 6. Juli 2010

Kurz vor der Abreise

Kürzlich wurde ich gefragt, ob mich denn schon das Reisefieber gepackt hat. Bis zum Zeitpunkt der Frage nicht, aber seit dem steigt die Fieberkurve täglich. Hab ich an alles gedacht? Wann fliege ich nochmal; Donnerstag oder Freitag? Fehlt noch etwas an Ausrüstung, Toilettenartikel, Lesestoff, Hörbücher, etc. Wenn nein: warum nicht? Wenn ja: dann wirds aber Zeit! Schnell den Törnplan gecheckt ... huch ... wir besuchen noch Sault St. Marie. Zwei mal touch-and-go, um abgefahrene Crew zu tauschen. Nachts wache ich auf und dann gehen mir merkwürdige englische Begriffe und Formulierungen durch den Kopf. Irgendwie hab ich den Eindruck; meine Software bekommt ein update und rebootet.

Englisch? Moment, da war doch was. Wo ist eigentlich mein kleines Langenscheidt-Wörterbuch im handlichen Hosentaschenformat? Ich sitze im Büro, Schweiß rinnt über meine Stirn. Schublade? Fehlanzeige! Bücherschrank! Auch nicht. Panik steigt in mir auf. Im Spind vielleicht? Jaaa ... da ist es ... nein ... da liegt nur mein Französisch-Wörterbuch. Ein Notfall! Und was macht der souveräne Marineoffizier in ausweglosen
Situationen? Richtig, er ruft seine Frau an. "Hallo Schatz ... keine Zeit ... Englisch-Wörterbuch ... Wo? ... Nicht bei meinen vorbereiteten Sachen auf dem Wohnzimmertisch? ... Vielleicht in der Sauna (?!?)? ... Ahhh ... im Schlafzimmer auf dem Boden direkt neben meinem Bett ... danke ... bis nachher."

Zur Zahl "47" habe ich mich an dieser Stelle schon geäußert. Gestern rief ich im Schiffsbüro an, um Reisedaten und weitere Informationen abzugleichen. Interessant sind beispielsweise so Dinge wie: Wo liegt eigentlich die Roald in Cleveland? Habt ihr eine Telefonnummer? Die Antwort kam schnell: Dock 30, Position 1, farthest west. Für Googler: An der nördlichen Pierseite unmittelbar am 'Clevelands Brown Stadium'. Dort ist ein Schuppen und um die Ecke das 'Steamship William G. Mather'. Und nach ca. 300m Weg findet sich das 'Great-Lakes-Science-Center' sowie die 'Rock'n Roll Hall of Fame'. Die nächste Strassenbahnhaltestelle (übersetz das mal ins Englische! Wie wär's mit 'street train station'? 'Tram stop' sagt mein Wörterbuch.) heisst 'W 3rd' Street und hat im Netzplan der RTS Cleveland die Nummer 47. Tja, es gibt einfach keine Zufälle.

Es ist heiß draußen. Du quälst dich zu Fuss durch die Stadt. Der Asphalt wabert; die Socken qualmen. Der Schweiß rinnt dir durch alle Poren und Furchen deines Körpers. Du bist genervt, willst nach Hause und etwas Kühles trinken. Die erste Fata Morgana steigt vor deinem geistigen Auge aus der erbarmungslosen Glut auf. Genau in diesem Moment tritts du in ein achtlos hingespucktes Kaugummi der Marke 'Super-Bubbel' oder wahlweise in frische, erst leicht oberflächlich angetrocknete Hundesch..... in der fröhlichen Frolic-Farbe rot-braun. Es klebt an deinen Schuhen und du wirst es nicht wieder los. So ungefähr fühle ich mich heute. Ich bin genervt, habe Fluchtfantasien und der Uhrzeiger braucht für eine Stunde soviel Zeit, wie sonst für einen ganzen Tag. Alles ist zäh, nichts fließt. "Fahr doch einfach nach Hause", flüstert mir eine mir wohlbekannte, innere Stimme zu. Die höre ich immer dann, wenn Verlockung und Versuchung überall da ist, wo ich gerade nicht bin.

Es wird Zeit, dass es endlich losgeht! Die fünfeinhalb Wochen Pause tun mir bestimmt gut. Abstand zum Dienst. Durchlüftung von Herz und Verstand. Danach ... ach, daran will ich jetzt garnicht denken. Hier und heute zählt. Und das von Tag zu Tag. Das schönste an der Seefahrt ist die Freude auf die Heimat. Dabei fange ich jetzt schon an, meine Liebste und meine Kinder zu vermissen ... ein tolles Gefühl; besonders, wenn man die Alternative bedenkt.

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